Die westlichen Waffen verlängern den Konflikt, ohne die Situation der Ukraine zu verändern. Interview mit Jacques Baud

Quelle: Zeitgeschehen im Fokus; Ausgabe Nr. 5 / 29.3.2023

Die westlichen Waffen verlängern den Konflikt, ohne die Situation der Ukraine zu verändern

Interview mit Jacques Baud

Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschul­institut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete u.a. für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

Zeitgeschehen im Fokus Wir sind tagtäglich in der medialen Berichterstattung mit Meldungen konfrontiert, deren Wahrheitsgehalt nicht für alle Menschen fragwürdig erscheint. Die Propaganda läuft nach wie vor auf Hochtouren, und ein normaler Mensch weiss nicht, was stimmt und was nicht stimmt.So gibt es immer wieder Meldungen in der Presse, dass Russland Gelände verliere und die Ukrainer Territorium zurückeroberten. Ist das glaubhaft?

Jacques Baud Das ist völlig falsch und fern der Realität. Es wird immer deutlicher, und das ist schon seit letztem Jahr klar gewesen: Die ukrainische Armee hat nie Gelände erobert, aus dem die russische Armee nicht schon früher und absichtlich abgezogen war. Die russische Armeeführung hat aus verschiedenen Gründen entschieden, diese Gebiete nicht zu halten. In der Folge «eroberte» die ukrainische Armee dieses Gebiet. Seit dem Beginn des Krieges hat die ukrainische Armee kein Territorium durch Kampf erobert. Schaut man eine Karte an, dann sieht man, die Ukraine hat an manchen Punkten Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht, aber das war nie das Resultat eines Kampfes. Und das ist heute immer noch die Situation. In meinem Buch «Operation Z», das vor dem russischen Abzug aus Charkow und Cherson veröffentlicht wurde, habe ich eine im Juli 2022 gezeichnete Karte, aus der hervorgeht, dass die russische Truppendichte in den Sektoren Charkow und Cherson bei einem Bataillon pro 20 km lag. Im Donbas lag die Truppendichte bei einem Bataillon pro 1 bis 3 km. Mit anderen Worten: Schon lange vor den sogenannten ukrainischen Offensiven im September und Oktober waren diese Gebiete für die Russen eine dritte Priorität.

In den Zonen, die die Russen den Ukrainern überliessen, waren sozusagen keine Truppen vorhanden, was erkennen lässt, dass die Russen kein Interesse an diesem Gebiet hatten. Im Kampf um Bachmut ist es anders als in Cherson oder Charkow.

Im Sommer 2022 hatte Russland sein Ziel der «Entmilitarisierung» erreicht. Die Ukraine hatte fast ihre gesamte Einsatzfähigkeit verloren und begann, von westlicher Militärhilfe abhängig zu werden. Selenskij musste die Territorialverteidigung mobilisieren und bat den Westen um Waffen¹.

Das Problem der Ukrainer ist nicht die Menge der Waffen, sondern die Art und Weise, wie sie diese einsetzen. Die ukrainischen Streitkräfte wurden von der Nato nicht auf diese Art von Krieg vorbereitet. Ab Sommer 2022 stellten die Russen daher fest, dass die westlichen Waffen den Konflikt verlängern würden, ohne die Situation der Ukraine zu verändern.

Die Russen änderten daher ihre Strategie. Sie hatten ihre Ziele der «Entnazifizierung» im März und der «Entmilitarisierung» im Juni 2022 erreicht. Die im Februar, März und August 2022 vorgeschlagenen Verhandlungen wurden von den Europäern und Grossbritannien verhindert. Für die Russen geht es also nicht mehr darum, die Ukrainer zu Verhandlungen zu bewegen, sondern darum, sie schrittweise zu zerstören.
Dies erklärte der General Surowikin im Oktober 2022. Es geht nicht darum, Gebiete einzunehmen, sondern den Ukrainern zu erlauben, Gegenangriffe zu starten und sie methodisch und systematisch zu zerstören. Genau das geschieht in Bachmut.

Weiterlesen: https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-5-vom-29-maerz-2023.html#article_1497

PDF-Version: JB 29.3.2023

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