Verteidigung von Existenz und freier Entwicklung mit allen verfügbaren Mitteln
Dekret 229: Das neue außenpolitische Planungsdokument der Russischen Föderation
Von Wolfgang Effenberger
13.4.2023
Am 22. März 2023 verabschiedete sich der chinesische Staatspräsident Xi Jinping in Moskau mit den Worten: „Jetzt gibt es Veränderungen, die es seit 100 Jahren nicht gegeben hat. Wenn wir zusammen sind, treiben wir diese Veränderungen voran.“(1) Welche Veränderungen kann er gemeint haben? Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sich Xi und Putin festgelegt, die Welt in eine multipolare Zukunft zu führen. Wenige Tage später, am 31. März 2023, unterzeichnete der Präsident der Russischen Föderation, Wladimir Putin, das 42-seitige Dekret “Konzept der Außenpolitik der Russischen Föderation”(2). Dieses Dokument löst die außenpolitische Doktrin aus dem Jahr 2016 ab. Darin wird in sechs Kapiteln (mit insgesamt 76 Unterpunkten) eine gediegene Analyse vergangener und gegenwärtiger russischer Außenpolitik präsentiert. Sie umreißt die politisch angestrebten Ziele Russlands, wobei die Bezeichnung “multipolare Weltordnung” (eine Begriffsverwendung für internationale Staatenbeziehungen, in denen die Machtverteilung das Kriterium für die Strukturbildung ist) mehrfach vorkommt, der Begriff „unipolare Weltordnung“ (bei der ein Staat alle anderen dominiert) hingegen kein einziges Mal.
Es lohnt sich also, dieses Strategie-Dokument der Russischen Föderation eingehender zu betrachten.
Im Kapitel I. (Allgemeine Bestimmungen) wird darauf verwiesen, dass dieses Dokument eine systemische Vision der nationalen Interessen der Russischen Föderation im Bereich der Außenpolitik und der Grundprinzipien sowie der strategischen Ziele der russischen Außenpolitik vermittelt. Es stützt sich auf die Verfassung der Russischen Föderation, auf die allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts sowie auf die internationalen Verträge der Russischen Föderation ab. Weiter wird an die unabhängige Staatlichkeit Russlands erinnert, die seit mehr als tausend Jahre währt, ebenso an das kulturelle Erbe der vorangegangenen Epoche, an die tiefen historischen Bindungen zwischen der traditionellen europäischen Kultur und den anderen eurasischen Kulturen. Darüber hinaus wird die generelle Bedeutung Russlands in der Welt aufgezeigt: seine immensen Ressourcen in allen Lebensbereichen, seinen Status als ständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat, seine Rolle als Teilnehmer an den führenden zwischenstaatlichen Organisationen und Vereinigungen, seine Bedeutung als ernstzunehmende Atommacht, seinen Status als Nachfolger der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (mit fortbestehender Rechtspersönlichkeit) sowie sein entscheidender Beitrag zum Sieg im Zweiten Weltkrieg und seiner aktiven Rolle bei der Gestaltung des gegenwärtigen Systems der internationalen Beziehungen.
Russlands unabhängige und multi-vektorale Außenpolitik wird von seinen nationalen Interessen und dem Bewusstsein seiner besonderen Verantwortung für die Erhaltung von Frieden und Sicherheit auf globaler sowie regionaler Ebene geleitet:
„Die russische Außenpolitik ist friedlich, offen, berechenbar, konsequent und pragmatisch und beruht auf der Achtung der allgemein anerkannten Grundsätze und Normen des Völkerrechts und dem Wunsch nach einer gerechten internationalen Zusammenarbeit zur Lösung gemeinsamer Probleme und zur Förderung gemeinsamer Interessen(3)“,
wobei die Haltung Russlands gegenüber anderen Staaten und zwischenstaatlichen Vereinigungen davon abhängt, ob deren Politik gegenüber der Russischen Föderation konstruktiv, neutral oder feindlich ist.
Im Kapitel II. (Die Welt von heute: wichtige Trends und Entwicklungsperspektiven) wird festgehalten, dass die Zerstörung des Systems der Rüstungskontrollverträge durch die USA die strategische Stabilität untergräbt.(4) Die völkerrechtswidrige Anwendung militärischer Gewalt und die Eskalation langwieriger bewaffneter Konflikte in einer Reihe von Regionen steigern das Risiko von Zusammenstößen auch unter Beteiligung von Atommächten und erhöhen somit und die Wahrscheinlichkeit, dass solche Konflikte eskalieren und sich zu einem lokalen, regionalen oder globalen Krieg ausweiten.
„Als Antwort auf die unfreundlichen Aktionen des Westens beabsichtigt Russland, sein Recht auf Existenz und freie Entwicklung mit allen verfügbaren Mitteln zu verteidigen“(5).
Hervorgehoben wird, dass die Mehrheit der Menschheit an konstruktiven Beziehungen zu Russland und an einer Stärkung der Position Russlands auf der internationalen Bühne als einflussreiche Weltmacht interessiert ist. Dies eröffnet der Russischen Föderation ein breites Spektrum von Möglichkeiten für eine erfolgreiche Tätigkeit auf der internationalen Bühne.
Im Kapitel III (Punkt 15) wird das primäre Ziel der russischen Außenpolitik wie folgt beschrieben: „Schutz der verfassungsmäßigen Ordnung, der Souveränität, der Unabhängigkeit, der staatlichen und territorialen Integrität der Russischen Föderation vor jeglichem destruktiven äußeren Einfluss.“(6) Ohne Zweifel sind es die USA, die diesem Ziel entgegenwirken. Das wird im gegenständlichen Strategie-Dokument mehrfach angedeutet.
Weiterlesen:
PDF:
oder: WE 13.4.2023
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Weitere Beiträge von Wolfgang Effenberger:
https://afsaneyebahar.com/category/wolfgang-effenberger/
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Siehe auch:
Das aktualisierte Konzept der Außenpolitik der Russischen Föderation; 31.3.2023
Das aktualisierte Konzept der Außenpolitik der Russischen Föderation; 31.3.2023
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Russlands neues außenpolitisches Konzept wird einen grundlegenden Wandel in der Innenpolitik des Landes einleiten
Am Freitag, den 31. März, hat Wladimir Putin ein neues außenpolitisches Konzept unterzeichnet, das die russische Diplomatie in den kommenden Jahren leiten wird. Es ersetzt das 2016 verkündete Konzept und legt auf 42 Seiten in logisch geordneter Form dar, was wir in Russlands Verhalten auf der Weltbühne seit dem Beginn der militärischen Sonderoperation in der Ukraine und dem anschließenden fast vollständigen Abbruch der Beziehungen mit dem US-geführten kollektiven Westen beobachten können.
Von Gilbert Doctorow
3.4.2023
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