Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen. Von Verena Tobler Linder

Die Veröffentlichung des Artikels erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autorin.

Plädoyer für eine Neutralität der Besonnenen

Von Verena Tobler Linder

Januar 2023

In Reaktion auf den Ukraine-Krieg hat Herr Cassis, zusammen mit den drei Frauen im Bundesrat, die tradierte schweizerische Neutralität versenkt. Diese war allerdings seit längerem bedroht und zwar aus vielschichtigen Gründen – hier nur einige davon:

  • Kritik an der Neutralität gab’s seit dem Zweiten Weltkrieg: Die wirtschaftlichen Verflechtungen mit den Achsenmächten brachten den Verdacht auf, die Schweiz sei eine Kriegsgewinnlerin.
  • Seit 1945 hat die Schweiz sich stark verändert: Das grenzenlose Weltwirtschaften hat unserem Land neue Abhängigkeiten und ein Übermass an Komplexität gebracht. Ein Tohuwabohu, das nicht nur die Parteien und die Stimmbürgerschaft, sondern manchmal auch den Staat oft überfordert.
  • Die Bevölkerung hat sich durch die Einwanderung nahezu verdoppelt: Multikulturalisiert und globalisiert nimmt der Anteil an Neuschweizerinnen in der Stimmbürgerschaft rasch zu. Viele sind heute – direkt oder indirekt – mit dem Ausland verbunden und haben inzwischen zwei oder sogar noch mehr Pässe.
  • Die Parteien sind zersplittert. Alt- und Neulinke verstehen sich nicht: Erstere sind systemkritisch, letztere, he nachdem, an individuenzentrierter Sensibilität oder Empfindlichkeit orientiert. Grüne und Grünliberale stehen in Konkurrenz, wollen aber genauso weiterwachsen wie die SVP, die Alt- und Neoliberalen – erstere nationalterritorial verortet, letztere an der Hyperglobalisierung interessiert.
  • Zu unguter Letzt: Früher waren politische Ämter an Strukturen und damit verantwortungsethisch an- und eingebunden, heute werden sie oft als persönliche Rolle interpretiert ….und dann entsprechend gesinnungsethisch eingefärbt oder publikumswirksam zelebriert.

I Was tun in solch vertrackter Situation? – ein paar Vorüberlegungen

  1. Zuerst, was wir ganz und gar nicht brauchen können, ist „Groupthink“1

Gruppendenken hat sich bereits in der Corona-Krise angekündigt: Es kommt auf, wenn Menschen Angst haben oder verunsichert sind. Dann nehmen Schwarz-Weiss-Malerei und Lagerdenken überhand, die Eigengruppe wird idealisiert, Andersdenkende und Fremde werden dämonisiert; es gilt nur noch das Entweder-Oder – das sind Erlebens- und Verhaltensmuster, die mit Realitätsverzerrungen verbunden sind und die zu gravierenden Fehlentscheidungen führen.

  1. Was wir stattdessen dringend brauchen ist ein Grundkonsens

Ein Grundkonsens über die zentralen staatspolitischen Institutionen – und dazu gehören in der Schweiz beide: Die Neutralität und die Direkte Demokratie.

  • Die Direkte Demokratie gibt den StimmbürgerInnen die Möglichkeit, über wichtige Gesetze und Sachgeschäfte direkt und eigenständig zu entscheiden. Beides setzt Sachkenntnisse und Sachverstand voraus, aber auch ein besonderes Verhältnis der BürgerInnen zu ihrem Staat und zu ihren MitbürgerInnen.

Denn lebendig bleibt die Direkte Demokratie nur auf der Basis von „Politischer Fairness“.

Diese schliesst ein:

  • die Pflicht zu einer sachbezogenen Auseinandersetzung,
  • den Mut, parteienübergreifend und kontrovers miteinander zu debattieren,
  • den Respekt, der allen zukommt – auch dem politischen Gegner.

Das ist der Boden, auf dem die Direkte Demokratie auch künftig funktionieren und unser Land in einer Welt voller Widersprüche und Ambivalenzen langfristig bestehen kann.

In diesem Sinn will ich im Folgenden über die schweizerische Neutralität nachdenken. Nicht ihre staatspolitischen Regeln und Implikationen werde ich fokussieren, sondern jenen Aspekt der Neutralität ins Zentrum stellen, der unserem Land Besonnenheit bringt.

Weiterlesen: VTL 01.2023

Weitere Schriften der Autorin: https://www.kernkultur.ch/