Norman Solomon: Warum will Joe Biden uns nicht die Wahrheit über die Gefahr eines Atomkrieges sagen?

Warum will Joe Biden uns nicht die Wahrheit über die Gefahr eines Atomkrieges sagen?

Die Gefahr eines Atomkrieges ist heute größer als während der Kubakrise, doch der US-Präsident schweigt dazu.

Von Norman Solomon

SALON, 8. Juni 2022

( https://www.salon.com/2022/06/08/why-wont-joe-biden-tell-us-the-truth-about-the-danger-of-nuclear-war/ )

Übersetzt von Fee Strieffler und Wolfgang Jung, 08.07.22

Ich habe gerade die mehr als 60 Erklärungen, Dokumente und Kommuniqués des US-Präsidenten zum Krieg in der Ukraine durchgesehen, die das Weiße Haus seit Joe Bidens Rede zur Lage der Nation Anfang März (s. https://www.whitehouse.gov/briefing-room/speeches-remarks/2022/03/02/remarks-by-president-biden-in-state-of-the-union-address/ ) veröffentlicht und auf seine Website gestellt hat. Sie alle stimmen mit dieser Rede in einem wichtigen Punkt überein: Atomwaffen und die Gefahr eines Atomkrieges kommen darin nicht vor. Dabei leben wir heute in einer Zeit, in der diese Gefahr größer ist [s. https://www.justsecurity.org/81040/why-the-war-in-ukraine-poses-a-greater-nuclear-risk-than-the-cuban-missile-crisis/ und https://www.newsweek.com/russia-ukraine-war-lavrov-1702415 ], als sie während der Kubakrise im Jahr 1962 war (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Kubakrise ).

Zumindest einige der insgesamt 25.000 Worte, die Biden in den 100 Tagen seit seiner dramatischen Rede vor beiden Häusern des Kongresses offiziell veröffentlichen ließ, hätte er doch dem Risiko der atomaren Vernichtung [s. https://responsiblestatecraft.org/2022/04/19/if-we-dont-want-nuclear-war-why-are-we-pushing-for-one/ ] widmen können. Doch dieses Risiko hat der Präsident von Anfang an ausgeblendet. In seiner Rede hat er sich zwar ausführlich mit dem Ukraine-Konflikt beschäftigt, aber nichts zu der Gefahr gesagt, dass dieser Konflikt auch den Einsatz von Atomwaffen auslösen könnte.

Eine Führungspersönlichkeit wie der Präsident hat das amerikanische Volk zu informieren und nicht zu bevormunden. Sie muss sich auch mit der Frage beschäftigen, wie in einer Zeit eskalierender Spannungen zwischen den beiden atomaren Supermächten der Welt ein Atomkrieg verhindert werden kann. Eine im Frühjahr 2022 von CBS News durchgeführte Umfrage [s. unter https://www.cbsnews.com/news/conflict-nuclear-warfare-ukraine-russia/ ] hat ergeben, dass der Krieg in der Ukraine bei 70 Prozent der erwachsenen US-Amerikaner die Befürchtung geweckt hat, dass er zu einem Atomkrieg führen könnte.

Doch anstatt solche Ängste öffentlich anzusprechen, hat Biden dazu geschwiegen. Er war nicht bereit, in seine berechtigten Anklagen gegen Russlands schrecklichen Krieg gegen die Ukraine auch nur die leiseste Warnung vor dem Anstieg des Atomkriegsrisikos einzufügen.

Biden hat nicht nur zu der Gefahr eines Atomkrieges geschwiegen, mit Hilfe führender Demokraten und wichtiger Massenmedien hat er sogar versucht, davon abzulenken. In Nachrichtensendungen mancher Mainstream-Medien wurde zwar auf die in der US-Bevölkerung wachsende Angst vor einem Atomkrieg hingewiesen, Bidens Weigerung, dazu Stellung zu nehmen, hat bisher aber niemand kritisiert. Für die führenden Demokraten auf dem Capitol Hill hat die Loyalität gegenüber der Partei offensichtlich Vorrang vor der ethischen Verantwortung. Dabei müssten sie eigentlich darauf bestehen, dass Biden endlich offen über ein Thema spricht, von dem die Zukunft der Menschheit abhängt.

Biden hat die atomare Gefahr bewusst verschwiegen und wurde von führenden Demokraten und wichtigen Medien bei der Irreführung der Öffentlichkeit unterstützt.

Die US-Bürger sollten sich fragen, ob der Präsident und die führenden Politiker des Kongresses angesichts der wachsenden Atomkriegsgefahr überhaupt noch das Vertrauen verdienen, das sie ihnen bisher gewährt haben. Selbst Organisationen, die es besser wissen sollten, erliegen immer wieder der Versuchung, zu vertrauensselig zu sein.

Als Sprecherin des Repräsentantenhauses hat sich Nancy Pelosi (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Nancy_Pelosi ) für jede aufgeblähte Erhöhung des US-Militärhaushaltes eingesetzt und selbst die extrem hohen Ausgaben für neue US-Atomwaffensysteme [s. https://www.theatlantic.com/international/archive/2018/02/democrats-defense-spending/553670/ ) befürwortet. Dennoch wird sie auch von Gruppen, die sich für Frieden und Abrüstung einsetzen, immer noch geradezu unterwürfig verehrt.

Noch vor wenigen Tagen hat der Ploughshares Fund (s. https://ploughshares.org/ ) seine Unterstützer vermutlich sehr geschmeichelt per E-Mail darüber informiert [s. https://www.salon.com/2021/06/02/peace-washing-is-a-network-of-major-donors-neutralizing-activism-in-the-peace-movement/ ], dass sich auch Frau Pelosi dem illustren Kreis von Personen angeschlossen hat, der auf dem Jahrestreffen des Fund zur Gründung einer Bewegung zur Reduzierung und endgültigen Abschaffung der Atomwaffen aufrufen will.

Die Annahme, ausgerechnet Frau Pelosi sei die geeignete Person, um Zuhörer, zum Aufbau einer solchen Bewegung anzuspornen, ist geradezu absurd. Als weitere Aufruferin wurde auch Fiona Hill (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Fiona_Hill ) angekündigt, die als kämpferische Direktorin (des Ressorts) für Europa und Russland dem Nationalen Sicherheitsrat angehört hat.

Die Vorstellung, Frau Pelosi und Frau Hill [s. https://www.politico.com/magazine/story/2019/09/30/fiona-hill-russia-trump-adviser-228758/ ] könnten und wollten wirklich erklären, wie man „eine Bewegung zur Verringerung und Abschaffung der Atomwaffen“ aufbaut, ist genauso bizarr, wie der untertänige Verzicht auf eine Aufforderung an Biden, sich endlich zu der drohenden Gefahr eines Atomkrieges zu äußern.

Der Präsident hat die Pflicht, mit Journalisten und der Öffentlichkeit über Atomwaffen und die Bedrohung zu reden, die sie für das Überleben der Menschheit auf diesem Planeten darstellen. Biden sollte von der US-Friedensbewegung auch dazu gedrängt werden, sich wieder der Diplomatie zu bedienen und mit Russland über Abrüstung zu verhandeln [s. https://www.salon.com/2021/03/23/joe-biden-and-vladimir-putin-urgently-need-to-hold-a-summit-meeting–and-soon/ ]. Mitglieder des Kongresses, Organisationen der Friedensbewegung und seine Wähler sollten von ihm verlangen, dass er endlich die wachsende Gefahr eines Atomkrieges anerkennt und öffentlich erklärt, was er zu tun gedenkt, um diese Gefahr abzuwenden, statt sie weiter anzuheizen [s. https://www.thenation.com/article/world/ukraine-nuclear-war/ ].

Solche Forderungen können nur an Dynamik und politischem Einfluss gewinnen, wenn sie von der Basis ausgehen, denn von der saturierten politischen Elite sind sie nicht zu erwarten. Aus diesem Grund veranstalten fast 100 Organisationen an 12. Juni 2022 gemeinsam eine Live-Stream-Versammlung mit dem Titel „Defuse Nuclear War“ (Atomkrieg verhindern!). [s. https://defusenuclearwar.org/ ] Anlass ist der 40. Jahrestag der Versammlung, zu der sich am 12. Juni 1982 eine Million Menschen im Central Park in New York trafen, um ein Ende des atomaren Wettrüstens zu fordern (s. https://de.wikibrief.org/wiki/Nuclear_disarmament ).

Dieser massive Protest war ganz im Sinne von Martin Luther King Jr., der in seiner Rede zur Verleihung des Friedensnobelpreises im Jahr 1964 gesagt hat: „Ich weigere mich, die zynische Vorstellung zu akzeptieren, dass eine Nation nach der anderen die militaristische Treppe in die Hölle der thermonuklearen Zerstörung hinabsteigen muss.“

Dass sich der US-Präsident und seine Hintermänner im Jahr 2022 hartnäckig weigern, über die Gefahr eines thermonuklearen Weltuntergangs auch nur zu sprechen, macht ihn eher noch wahrscheinlicher.

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Viele ältere Artikel von Norman Solomon (s. https://de.wikipedia.org/wiki/Norman_Solomon_(Journalist) ) waren in der LUFTPOST zu lesen. Zwei davon, die den aktuellen gut ergänzen, sind unter http://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_16/LP10116_290716.pdf. und https://www.luftpost-kl.de/luftpost-archiv/LP_16/LP11218_060818.pdf aufzurufen.

Wir haben diesen Artikel mit DeepL-Unterstützung übersetzt. Die Links in eckigen Klammern hat der Autor, die in runden Klammern haben wir eingefügt.

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Anmerkungen: Unter https://www.armscontrol.org/act/2022-04/news/biden-policy-allows-first-use-nuclear-weapons ist nachzulesen, dass sich Biden gerade dafür entschieden hat, „to use nuclear weapons not only in retaliation to a nuclear attack, but also to respond to non-nuclear threats“. Biden will also künftig „Atomwaffen nicht nur zur Vergeltung eines Angriffs mit Atomwaffen, sondern auch als Reaktion auf nicht-atomare Bedrohungen einsetzen“.

Weil Biden schon mehrfach verkündet hat, von einem „Sieg Russlands in der Ukraine“ gehe eine Bedrohung für den gesamten Westen aus, könnte er den Ersteinsatz von US-Atomwaffen gegen Russland damit begründen, dass er nur so einen für die USA und die NATO „bedrohlichen russischen Sieg“ in der Ukraine verhindern konnte. Das erklärt auch, warum Biden derzeit tunlichst vermeidet, die US-Bürger auf die von ihm selbst verschärfte Gefahr eines Atomkrieges aufmerksam zu machen.

Von führenden Politikern der Bundesrepublik Deutschland und einigen einheimischen Medien wird die Gefahr eines Atomkrieges zwar gelegentlich erwähnt, aber dann sofort als unberechtigte „Panikmache“ abgetan, obwohl sie mit jeder neuen Waffenlieferung an die Ukraine weiterwächst.

Die wegen der unterschiedlichen Einschätzung des Ukraine-Konfliktes noch unversöhnlicher als bisher zerstrittenen Reste der deutschen Friedensbewegung werden es deshalb vermutlich nicht schaffen, sich wie in den 1980er Jahren auf einen Minimalkonsens zur Verhinderung des drohenden Atomtodes zu verständigen. Mit der Demo „Wir zahlen nicht für eure Kriege!“ am 2. Juli 2022 in Berlin (s. https://zivilezeitenwende.de/ und https://www.ohne-ruestung-leben.de/nachrichten/article/zivile-zeitenwende-friedens-demonstration-2-juli-2022-berlin-509.html ), zu der nach Angaben der Veranstalter 4.000, nach Angaben der Polizei aber nur 1.400 Teilnehmer kamen, ist das jedenfalls noch nicht gelungen (s. dazu auch https://www.berliner-zeitung.de/news/berlin-hunderte-demonstrieren-gegen-aufruestung-der-bundeswehr-li.242708 und https://www.heise.de/tp/features/Wir-zahlen-nicht-fuer-Eure-Kriege-Am-Nerv-der-Zeit-und-doch-kein-grosser-Wurf-7161059.html ).

Falls es nicht doch noch gelingt, einen gemeinsamen Massenprotest zu organisieren, wird ein gemeinsames Massensterben in einem atomaren Inferno immer wahrscheinlicher.

 

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PDF-Version: FS WJ 8.7.2022

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