Rede der Aachener Philosophieprofessorin Maria Reicher-Marek am Nakba-Tag (15.52025)

"[...] Der Begriff der „historischen Verantwortung“ fordert mich als Philosophin heraus. Denn Verantwortung im eigentlichen Sinn kann man nur haben für Geschehnisse, deren Verlauf man hätte beeinflussen können. Darum gilt für die meisten von uns, dass wir keine Verantwortung für den Holocaust tragen. Das ist kein Verdienst, es ist bloß die Gnade der späten Geburt.

Ist also die viel beschworene „historische Verantwortung“ eine Fiktion? – Nicht ganz. Ich denke, man kann schon sinnvoll von historischer Verantwortung sprechen, und zwar in folgendem Sinn: Es gibt so etwas wie eine Verantwortung, sich der Geschichte zu erinnern, um aus ihr zu lernen. Wir sind im vollen Sinne des Wortes verantwortlich für das, was jetzt geschieht, sofern wir irgend-eine Möglichkeit haben, Einfluss darauf zu nehmen. [...]"

Rede der Aachener Philosophieprofessorin Maria Reicher-Marek am Nakba-Tag

Veröffentlicht von dem Forum Friedensethik in der Evangelischen Landeskirche in Baden (FFE) am 25.5.2025

Das öffentliche und offizielle Deutschland gedenkt dieser Tage der Beendigung des Krieges vor 80 Jahren und der Befreiung vom Nationalsozialismus. Das ist richtig und wichtig. Dass wir uns an die Vergangenheit erinnern, dass wir uns an die Verstorbenen erinnern, auch und gerade an die Opfer vergangener Verbrechen, ist ein wesentlicher Teil unseres Mensch-Seins. Es ist aber auch wichtig für unsere Gegenwart und für unsere Zukunft. Denn wer aus der Geschichte nicht lernt, ist bekanntlich dazu verdammt, sie zu wiederholen.

Heute, am Nakba-Tag, gedenken wir der palästinensischen Opfer der Nakba, der Katastrophe der massenhaften Vertreibung und Ermordung von Palästinenser/innen im Zuge der Gründung des Staates Israel von 1947 bis 1949:

Wir gedenken der rund 15.000 Palästinenser/innen, die von 1947 bis 1949 ermordet wurden – ermordet zunächst von paramilitärischen zionistischen Einheiten, später – nach der Gründung des Staates Israel – von der regulären israelischen Armee.

Wir gedenken der rund 750.000 Palästinenser/innen, die von 1947 bis 1949 enteignet und aus ihren Häusern vertrieben wurden. Hunderte palästinensische Dörfer und Städte wurden zerstört. Auf den Ruinen entstanden jüdische Dörfer und Städte. Die meisten Vertriebenen fanden nirgendwo eine neue Heimat, lebten fortan als Flüchtlinge in Lagern, fast immer in prekären Verhältnissen, oft rechtlos. Hunderttausende Einzelschicksale, Hunderttausende zerstörte Existenzen.

Wir stehen hier und gedenken dieser Opfer. Das ist gut so. Doch warum ist das Gedenken an die palästinensischen Opfer der israelischen Staatsgründung nicht Teil der offiziellen Erinnerungskultur unseres Landes? Weil es uns nichts angeht? Weil es nichts mit unserer Geschichte zu tun hat?

Weiterlesen: https://forum-friedensethik.de/nakba-und-deutsche-verantwortung/

PDF: MRM5.2025

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Siehe auch:

Deutschlands Versklavung durch seine Vergangenheit hat es viel zu lange zum Schweigen über Gaza gebracht.

Von Gideon Levy

30.5.2025

https://afsaneyebahar.com/2025/05/31/20704122/

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Eine düstere Umfrage ergab, dass die meisten jüdischen Israelis die Vertreibung der Bewohner Gazas unterstützen. Das ist brutal – und es ist wahr

Von Dahlia Scheindlin

3.6.2025

https://www.sicht-vom-hochblauen.de/analyse-eine-duestere-umfrage-ergab-dass-die-meisten-juedischen-israelis-die-vertreibung-der-bewohner-gazas-unterstuetzen-das-ist-brutal-und-es-ist-wahr/

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Die vergessenen Palästinenser

Die Geschichte der Palästinenser in Israel

Von Ilan Pappé (2013)

Übersetzung aus dem Englischen von Giselher Hickel, Abraham Melzer, Uli Schieszl und Viktoria Waltz (2025)

https://afsaneyebahar.com/2025/03/29/20703790/

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Was ist los mit Israel?

Die zehn Hauptmythen des Zionismus

Von Ilan Pappé

2017

https://afsaneyebahar.com/2023/11/11/20697212/

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Deutsche und Juden vor 1939

Stationen und Zeugnisse einer schwierigen Beziehung

Von Wolfgang Effenberger und Reuven Moskovitz

2013

https://afsaneyebahar.com/2024/01/13/20697826/

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