Wonnen der Normalisierung. Von Moshe Zuckermann (30.8.2025)

„[…] In Israel geht es gegenwärtig in dieser Hinsicht noch bedenklicher zu: Die Normalisierung findet inmitten der Katastrophe (und nicht erst nach ihrem Ablauf) statt. Es gibt kaum noch etwas ethisch, politisch, sozial oder kulturell Verwerfliches, das nicht flugs normalisiert wird und zur akzeptierten Selbstverständlichkeit gerinnt. Was zunächst noch schockieren mag, wird bald “geschluckt” und avanciert zur Norm: Normalisiert wird ein nachgerade passives Verhältnis zum Zerfall des Staates, seiner Institutionen und der Korruption seiner führenden Amtsträger; normalisiert wird die Fortsetzung des längst zweck- und sinnentleerten Krieges in Gaza; normalisiert wird die horrende Praxis sich immens häufender Kriegsverbrechen, allen voran die massenweise Tötung von Unbeteiligten im Gazastreifen (einschließlich Kinder, Frauen und alter Menschen); normalisiert werden auch die wöchentlich an Palästinensern verübten Pogrome jüdischer Siedler im Westjordanland (die Okkupation und das Apartheidregime sind schon seit langem normalisiert); normalisiert ist auch die schiere Tatsache, dass kahanistische Faschisten, messianische Extremisten und exponierte Rassisten an den Schalthebeln der israelischen Politik sitzen (ganz zu schweigen von der eklatanten Verlogenheit der gesamten politischen Klasse des Landes); normalisiert wird selbst der unter fremdbestimmten Vorwänden verlängerte Verbleib der gemarterten israelischen Geiseln in Hamas-Gefangenschaft, ja deren dezidierte Opferung. […]“

Wonnen der Normalisierung

Je katastrophaler sich Israels Realität gestaltet und strukturiert, desto intensiver verbreitet sich das Muster der Normalisierung all dessen, was im Staat nicht mehr stimmt.

Von Moshe Zuckermann

30.8.2025

Aus Deutschland schrieb man mir diese Woche: “In Gaza geht die Hölle weiter… ich kann die Bilder gar nicht mehr sehen und schäme mich dabei, das zu denken.” Die Aussage berührt ein fundamentales Problem der Wahrnehmung von Entsetzlichem. Erstreckt sich nämlich das Entsetzliche über eine längere Zeitspanne (“die Hölle geht weiter”), tritt unwillkürlich eine Erschlaffung der ersten Schockreaktion ein, und man kann “die Bilder nicht mehr sehen”. Dass diese Erschlaffung reflektierten Beobachtern auf dem Gewissen lastet (man “schämt sich, so zu denken”), indiziert, dass der humane Impuls bei ihnen noch fortwirkt, ohne aber das nagende Gefühl des Nicht-mehr-Könnens zu überwinden.

Das Leben geht weiter, und man kann es nicht mit einem Dauergefühl des Horrors, des Grauens bzw. permanenten Erbarmens bewältigen. Der Alltag mit allem, was es in ihm zu verrichten gilt, fordert seinen Tribut, und das Entsetzliche wird in ihn nolens volens integriert, man veralltäglicht gleichsam das Horrende. Den üblichen Mechanismen psychischer Abwehr – allen voran jenen der Verdrängung, des Leugnens und der Rationalisierung (die unlängst an dieser Stelle erörtert wurden) – muss man, so besehen, den der Normalisierung von Horrendem hinzuzählen. Man beachte: Nicht nur gewöhnt man sich an das, was unannehmbar ist, sondern der Zustand dieser Gewöhnung wird selbst normalisiert. Es handelt sich dabei nicht nur um Normalisierung im Sinne des rationalisierenden So-ist-es-nun-einmal (“Wo gehobelt wird, fallen Späne”), sondern um die fast schon indifferente, mithin kaum noch hinterfragte Hinnahme dessen, was Gegenstand aufgewühlter Empörung zu sein hätte.

Weiterlesen: https://overton-magazin.de/top-story/wonnen-der-normalisierung/

PDF: MZ30.8.2025

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Siehe auch:

Der Whistleblower Anthony Aguiar spricht über die „humanitäre Hilfe“ als Bestandteil des laufenden Völkermords in Gaza

Veröffentlicht am 24.8.2025

Anthony Aguiar, ein Veteran der US-Armee, hat als Sicherheitsunterauftragnehmer für Gaza Humanitarian Foundation (GHF) gearbeitet. Er schildert in diesem Interview, wie die „humanitäre Hilfe“ von Israel gezielt als Bestandteil des laufenden Völkermords in Gaza eingesetzt wird.

https://afsaneyebahar.com/2025/08/26/20704798/

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Wir sind keine geborenen Krieger. Zu psychosozialen Voraussetzungen von Friedfertigkeit und „Kriegstüchtigkeit“

Von Andreas Peglau

14.5.2025

https://afsaneyebahar.com/2025/05/16/20703965/

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Nur durch Frieden bewahren wir uns selber

Die Bergpredigt als Zeitenwende

Von Eugen Drewermann

2023

https://afsaneyebahar.com/2023/10/31/20697044/

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Hybris und Nemesis

Wie uns die Entzivilisierung von Macht in den Abgrund führt – Einsichten aus 5000 Jahren

Von Rainer Mausfeld

2023

https://afsaneyebahar.com/2024/07/17/20700932/

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IAGS (The International Association of Genocide Scholars) Resolution on the Situation in Gaza

31.8.2025

https://afsaneyebahar.com/wp-content/uploads/2025/09/iags31.8.2025.pdf

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Tage wie diese

(25.7.2025)

Die offiziellen Nachrichten

beleidigen zutiefst

den menschlichen Verstand

und die Zärtlichkeit der Sinne

Die Empörung gedeiht

֎

https://afsaneyebahar.com/2025/07/30/20704482/

Beharrlich

(31.7.2020)

Es ist eine durchaus lehrreiche Zeit

Wie die massive Überflutung eines Ameisenbaus

wütet die planmäßig geschürte, tiefgreifende Angst

in unserer zutiefst kranken Gesellschaft

So verfällt schmerzhaft mancher Zeitgenosse

geistig in eine erregte Lähmung

beschäftigt sich getrieben

mit dem vergrößerten Ausschnitt der Gegebenheiten

und vergisst dabei sträflich

die besonnene Betrachtung des ganzen Geschehens

Gerade deshalb rede ich beharrlich

von den grundlegenden Ursachen der jetzigen Schieflage

die viele Denker nicht anpacken möchten

aufgrund ihrer Vorgeschichte

aus trügerischer Bequemlichkeit

oder aus Macht- und Geldgier

Mit Liebe, Freude und Leidenschaft

spreche ich von der Sehnsucht nach Wärme und Nähe

und von dem schöpferischen Licht

das in jedem Lebewesen fließt

֎

https://afsaneyebahar.com/2024/03/01/20698457/