Autoritär gestört? Ein Gespräch mit Dr. Andreas Peglau über die aktuelle gesellschaftliche Situation (10.7.2025)

 

„[…] Bereits 1913 schrieb Otto Gross (1877–1920), sämtliche bisherigen Revolutionen seien „zusammengebrochen, weil der Revolutionär von gestern die Autorität in sich selbst trug.“ Der „Herd aller Autorität“ läge in der Familie, wo Sexualunterdrückung und „Vaterrecht“ jede Individualität in Ketten schlage(2). Damit und mit weiteren Passagen seiner Artikel war Gross der erste Psychoanalytiker, der tiefgründige Erkenntnisse über das Problem des familiären wie gesellschaftlichen Autoritarismus-Phänomens publizierte. 

Ab 1929 erfasste dann der Psychoanalytiker Erich Fromm (1900–1980) in Zusammenarbeit mit dem Frankfurter Institut für Sozialforschung autoritäre Einstellungen durch einen Fragebogen: „[D]ie erste sozialpsychologische Feldforschung überhaupt, die mit der psychoanalytischen Einsicht Ernst machte, daß die in Parteibekenntnissen und Parteizugehörigkeit geäußerte politische Überzeugung von den unbewussten Motiven verschieden sein könnte.“(3) 

Mittels dieser auch für weitere Forschungen des Frankfurter Institutes wegweisenden Untersuchung ließ sich „bereits vor der Machtergreifung Hitlers sagen, dass gerade die in Parteien und Gewerkschaften erzogenen Arbeiter trotz ihrer revolutionären Bekenntnisse nicht jenen Widerstand gegen ein autoritäres und diktatorisches Regime verkörperten, den man ihnen gern zuschrieb und von dem die Arbeiter selbst überzeugt waren.“(4) Diese Untersuchung wurde erst 1980 veröffentlicht(5). Vielleicht liegt es auch daran, dass sie selten als das gewürdigt wird, was sie ist: der Anfangspunkt systematischer empirischer Autoritarismusforschung. Diese wiederum gilt heute als frühester Bestandteil dessen, was oft mit dem Begriff Rechtsextremismusforschung bezeichnet wird. 

1930 schilderte Fromms Kollege Wilhelm Reich (1897–1957) in seinem Buch Geschlechtsreife, Enthaltsamkeit, Ehemoral den kleinbürgerlichen „patriarchalischen Vater“ folgendermaßen: 
„Er ist sozusagen der Exponent und Vertreter der staatlichen Autorität in der Familie. Er ist wegen des Widerspruchs zwischen seiner Stellung im Produktionsprozess (Diener) und seiner Familienfunktion (Herr) folgerichtig und typisch eine Feldwebelnatur; er duckt sich nach oben, saugt die herrschenden Anschauungen restlos auf (…) und er herrscht nach unten; er gibt die obrigkeitlichen und gesellschaftlichen Anschauungen weiter und setzt sie durch.“(6) 

Nach oben buckeln, nach unten treten – was er da beschrieb, sollte später zum Kern des Autoritarismus-Konzeptes gehören: autoritäre Aggression und autoritäre Unterwerfung. Nachdem Reich 1930 von Wien nach Berlin übergesiedelt war, begann er mit Forschungen zu den Wurzeln „rechter“ Bewegungen. Seine 1933 erschienene Massenpsychologie des Faschismus war die erste Veröffentlichung über die psychosozialen Grundlagen des nun zur Macht gelangten Nationalsozialismus – und damit die erste Veröffentlichung der Rechtsextremismusforschung. 

Reichs Auffassung des Faschistischen als autoritär, nationalistisch, rassistisch – insbesondere antisemitisch –, militant und (Männer-)Gewalt verherrlichend, deckt sich weitgehend mit wesentlichen Aspekten gegenwärtig als gültig erachteter Definitionen von „rechtsextrem“.  

Schon daher wäre es naheliegend, seine Erkenntnisse auch zum Verständnis aktueller „rechter“ Phänomene zu nutzen – was jedoch offensichtlich nicht geschieht. Nicht nur fehlen in der heutigen Rechtsextremismusforschung für Reich so zentrale Punkte wie die Mitverursachung von „Rechts“-Tendenzen durch Religion und Sexualunterdrückung oder die Wechselwirkung zwischen Führern und Geführten; schon bloße Verweise auf Reich sind die Ausnahme. [...]"

Quelle: https://www.manova.news/artikel/wider-den-gehorsam

Autoritär gestört? – Dr. Andreas Peglau über Macht, Gehorsam und die Lehren aus der Pandemie

10.7.2025

https://www.youtube.com/watch?v=TwH8bNJ_pZM

******

Siehe auch:

Massenpsychologie des Faschismus

Der Originaltext von 1933

Von Wilhelm Reich

Herausgegeben, redigiert und mit einem Anhang versehen von Andreas Peglau

2020, Psychosozial-Verlag, Gießen

ISBN: 978-3-8379-2940-9

https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/hoerbuch-wilhelm-reich-massenpsychologie-des-faschismus-1933/

https://psychosozial-verlag.de/programm/2000/2100/2940-detail

Wilhelm Reichs Massenpsychologie des Faschismus (1933) ist eine tiefgründige Untersuchung der psychosozialen Hintergründe des deutschen und internationalen Faschismus. Zugleich ist es ein Zeitzeugenbericht: Ein marxistischer Psychoanalytiker jüdischer Herkunft erlebt, kommentiert und analysiert das Ende der Weimarer Republik und den Siegeszug des Nationalsozialismus. Die hier dargestellte Sichtweise ist so nur noch in Reichs eigener späterer Version der Massenpsychologie (1946) nachzulesen – allerdings deutlich verändert, teils weniger klar formuliert, auf jeden Fall: weniger psychoanalytisch.

Reichs Originaltext von 1933 erscheint hier ergänzt um das Nachwort der zweiten Auflage von 1934 sowie versehen mit einem Glossar und einer biografisch-zeitgeschichtlichen Einordnung von Andreas Peglau.

******

Anatomie des Wahns

Wilhelm Reichs Klassiker „Massenpsychologie des Faschismus“ provoziert Vergleiche zwischen 1933 und heute.

Eine Einordnung und Auszüge aus dem Text von 1933.

Von Andreas Peglau

16.1.2020

https://www.manova.news/artikel/anatomie-des-wahns

„[…] Man behindert die Entfaltung dieser geschichtlichen Kraft, wenn man die nationalsozialistische Bewegung als ein Werk von Gaunern und Volksbetrügern abtut, auch wenn sich in ihr Gauner und Volksbetrüger befinden. Hitler ist nur objektiv ein Volksbetrüger, indem er die Herrschaft des Grosskapitals verschärft; subjektiv ist er ein ehrlich überzeugter Fanatiker des deutschen Imperialismus, dem ein objektiv begründeter Riesenerfolg den Ausbruch der Geisteskrankheit erspart hat, die er in sich trägt. Es führt nicht nur in eine Sackgasse, sondern erzielt das gerade Gegenteil des Beabsichtigten, wenn man die nationalsozialistische Führung mit alten, abgeschmackten Methoden lächerlich zu machen versucht. Sie hat mit unerhörter Energie und mit grossem Geschick Massen wirklich begeistert und dadurch die Macht erobert.

Der Nationalsozialismus ist unser Todfeind, aber wir können ihn nur schlagen, wenn wir seine Stärken richtig einschätzen und dies auch mutig aussprechen. […]“

******

Vom Nicht-Veralten des „autoritären Charakters“.

Wilhelm Reich, Erich Fromm und die Rechtsextremismusforschung

Von Andreas Peglau

In: Sozial.Geschichte Online / Heft 22 / 2018

https://duepublico2.uni-due.de/receive/duepublico_mods_00045936

PDF:

https://duepublico2.uni-due.de/servlets/MCRFileNodeServlet/duepublico_derivate_00045266/05_Peglau_Autoritarismus.pdf

******

Wider den Gehorsam!

Der „autoritäre Charakter“ ist wieder modern.

Vor über 100 Jahren begannen einzelne Psychoanalytiker, sich für die Ursachen von Macht und Unterwerfung zu interessieren. Sie erforschten Entstehungsbedingungen und Auswirkungen dessen, was später „autoritärer Charakter“ genannt werden sollte. Wenn heute in der Sozialwissenschaft nach den Ursachen des europäischen „Rechtsrucks“ gefragt wird, spielt dieses Konzept kaum noch eine Rolle. Dies jedoch keinesfalls, weil es „veraltet“ wäre. Kapitalismus, Entdemokratisierung und Kriegstreiberei sind nach wie vor undenkbar ohne die Massen von Menschen, die nach oben buckeln und nach unten treten wollen.Nur die Methoden, wie dies herbeisozialisiert wird, haben sich zu Teilen verändert.

Von Andreas Peglau

9.5.2018

https://www.manova.news/artikel/wider-den-gehorsam

******

„Psychisch gesunde Menschen wollen keinen Krieg“

Jens Lehrich im Gespräch mit dem Psychoanalytiker Dr. Andreas Peglau

15.4.2025

https://afsaneyebahar.com/2025/04/25/20703838/

******

Lebensbejahend – lebensfeindlich – Eine Alternative zur „links-rechts“-Einteilung

Von Andreas Peglau

26.4.2025

https://afsaneyebahar.com/2025/04/27/20703851/

"[...] In der 1946 erschienenen, stark veränderten Neuauflage seiner „Massenpsychologie des Faschismus“ zog er – nun basierend auch auf den Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs – die Bilanz:

„Der Faschismus wird (…), infolge des politischen Fehldenkens, als eine spezifische Nationaleigenschaft der Deutschen oder Japaner aufgefasst. (…) Meine charakteranalytischen Erfahrungen überzeugten mich dagegen, dass es heute keinen einzigen lebenden Menschen gibt, der nicht in seiner Struktur die Elemente des faschistischen Fühlens und Denkens trüge. Demzufolge gibt es einen deutschen, italienischen, spanischen, anglosächsischen, jüdischen und arabischen Faschismus. Man kann den faschistischen Amokläufer nicht unschädlich machen, wenn man ihn, je nach politischer Konjunktur, nur im Deutschen oder Italiener und nicht auch im Amerikaner und Chinesen sucht; wenn man ihn nicht in sich selbst aufspürt, wenn man nicht die sozialen Institutionen kennt, die ihn täglich ausbrüten.“ (22)

Es wäre eine naive und gefährliche Illusion, zu glauben, diese sozialen Institutionen hätten aufgehört, zu existieren."

******

Wir sind keine geborenen Krieger. Zu psychosozialen Voraussetzungen von Friedfertigkeit und „Kriegstüchtigkeit“

Von Andreas Peglau

22.6.2025

https://afsaneyebahar.com/2025/06/23/20704288/

******

Weitere Schriften von Andreas Peglau

https://andreas-peglau-psychoanalyse.de/

https://afsaneyebahar.com/category/andreas-peglau/

******