«Russland hat nicht die Absicht, Europa anzugreifen» «Unsere Politiker sind Gefangene ihrer Narrative» Interview mit Jacques Baud (veröffentlicht am 25.6.2024)

Jacques Baud hat einen Master in Ökonometrie und ein Nachdiplomstudium in internationaler Sicherheit am Hochschulinstitut für internationale Beziehungen in Genf absolviert und war Oberst der Schweizer Armee. Er arbeitete für den Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst und war Berater für die Sicherheit der Flüchtlingslager in Ost-Zaire während des Ruanda-Krieges, arbeitete unter anderem für die Nato in der Ukraine und ist Autor mehrerer Bücher über Nachrichtendienste, asymmetrische Kriegsführung, Terrorismus und Desinformation.

„[…] Josep Borrell erklärte: «Irgendwie haben wir dieses Problem geschaffen, und wir haben eine grosse Verantwortung, es zu lösen. […] Ich weiss, wie man den Krieg in der Ukraine beenden kann. Ich könnte den Krieg in der Ukraine innerhalb weniger Wochen beenden, indem ich einfach die Lieferungen kappe. Wenn ich die Waffenlieferungen an die Ukraine kappe, wird die Ukraine keinen Widerstand leisten können, sie wird sich ergeben müssen, und der Krieg wird enden. Aber wollen wir, dass der Krieg so endet? Ich möchte das nicht, und ich hoffe, dass viele Menschen in Europa das auch nicht möchten.»⁶

Wie sich jeden Tag aufs Neue zeigt und wie ich seit Beginn der Krise erläutert habe, ist es nicht das Ziel des Westens, der Ukraine zu helfen, sondern Russland zu schwächen – egal, welchen Preis die Ukrainer dafür zahlen. Für unsere Parlamentarier ist es ein Leichtes, mit dem Blut anderer Krieg zu führen.

Das ist übrigens genau das, was der polnische Präsident Duda zu Beginn des Bürgenstock-Gipfels sagte:7 Es geht um die «Dekolonisierung», das heisst die «Zerstückelung» Russlands nach Nationalitäten.8 Er wiederholt nur, was die estnische Ministerpräsidentin Kaja Kallas am 18. Mai auf der Lennart Meri Conference gesagt hatte.⁹

Diese Aussagen bestätigen einerseits diese von allen europäischen Regierungen unterstützte «Strategie», die auf die Zerstörung des russischen Staates abzielt, und andererseits das von Wladimir Putin oft wiederholte Gefühl einer existenziellen Gefahr für Russland. So beweisen die westlichen Politiker selbst, dass Putin weit davon entfernt ist, paranoid zu sein, wie unsere Experten von RTS behaupten,10 und stärken seine Glaubwürdigkeit bei den Russen. […]“

„[…] Das Hauptverdienst der Krisen, die wir heute in der Ukraine und in Palästina beobachten, besteht darin, dass sie die tiefe Idiotie unserer Politiker aufzeigen. Dies ist übrigens auch das, was die europäischen Völker allmählich verstehen und in den jüngsten Europawahlen zum Ausdruck brachten. Anlässlich des G7-Gipfels veröffentlichte die britische Zeitung The Telegraph ein Foto, auf dem die westlichen Politiker in Bezug auf ihre Beliebtheitswerte gegenübergestellt werden. Wir werden von ignoranten, fanatisierten Inkompetenten regiert und von ungebildeten Dummköpfen informiert, sodass es nicht verwunderlich ist, dass Entscheidungen erratisch, ohne Strategie und mit unvorhergesehenen Folgen getroffen werden.

Russland hat nicht die Absicht, Europa anzugreifen. Sein Ziel, das Wladimir Putin bei fast jeder Rede wiederholt, ist, die Bedrohung für die russische Bevölkerung in der Ukraine zu neutralisieren. Hätten unsere Journalisten, Politiker und Diplomaten die Situation vor Februar 2022 und dann im März 2022 aufmerksam verfolgt, wären wir nicht in dieser Lage. Unsere Politiker sind Gefangene ihrer Narrative. Wie kleine Kinder müssen sie sich von einer Lüge zur nächsten hangeln, um ihre Fehler zu rechtfertigen. Unsere Politiker schüren eine Spirale der Gewalt.

Die Vorstellung, dass Wladimir Putin eine Invasion Europas anstrebt, ist reine Phantasie. Im Gegensatz zum Westen arbeiten die Russen mit Zielen. Welche könnten das sein, wenn Russland Europa angreift? […]“

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«Russland hat nicht die Absicht, Europa anzugreifen»

«Unsere Politiker sind Gefangene ihrer Narrative»

Interview mit Jacques Baud

veröffentlicht am 25.6.2024

Zeitgeschehen im Fokus; Ausgabe Nr. 10 / 2024

Zeitgeschehen im Fokus Seit Monaten bestimmen Diskussionen um neue Waffenlieferungen in die Ukraine die Medien. Haben die bereits gelieferten Waffen auf den Verlauf des Krieges irgendeinen Einfluss gehabt? Wenn ja, wo kann man das erkennen oder auch nicht?

Jacques Baud Nein, diese Waffen haben keinen Einfluss und werden keinen Einfluss auf den Verlauf des Konflikts haben. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens sind diese Waffen in der Regel veraltet und stammen aus den Überschüssen unserer Armeen. Wie ich in meinem Buch «Die russische Kriegskunst» gezeigt habe, liegt das Durchschnittsalter der auf russischer Seite eingesetzten Kampfpanzer bei 13,4 Jahren, während auf ukrainischer Seite ein Durchschnittsalter von 29,7 Jahren zu verzeichnen ist. Zweitens sind die Waffen, die wir an die Ukraine liefern, oft defekt oder sogar unbrauchbar, wie Annalena Baerbock selbst zugegeben hat.¹ Das geht so weit, dass die Ukraine selbst von Deutschland angebotene LEOPARD-2-Panzer abgelehnt hat.² Drittens wurden die westlichen Waffen, die der Ukraine geliefert wurden, für Kriege im Nahen Osten oder für mitteleuropäisches Terrain entwickelt und sind für den in der Ukraine geführten Krieg völlig ungeeignet.³ Viertens ist das ukrainische Militär nicht ausreichend ausgebildet, um diese Waffen zu beherrschen, von denen es viele gibt, die alle unterschiedlich sind und aus verschiedenen Ländern stammen: Die ukrainischen Soldaten müssen daher oft «Google translate» verwenden, um die Bedienungsanleitungen zu übersetzen!4 Fünftens – und das ist das Wichtigste – ist es praktisch unmöglich, diesen «Flickenteppich» von Waffen in eine kohärente Doktrin und in operative Konzepte zu integrieren. Seit 2023 spricht Macron beispielsweise davon, der Ukraine Mirage 2000-5-Flugzeuge zu geben. Im September 2023 erklärte Yuri Ignat, Sprecher der ukrainischen Luftwaffe, jedoch, dass «die Verlegung der Mirage 2000 keine rationale Entscheidung wäre und ihre Beherrschung nur die Luftfahrtressourcen der Ukraine erschöpfen würde».5

Weiterlesen: https://www.zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-10-vom-25-juni-2024.html#article_1696

PDF: JB25.6.2024

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Siehe auch:

Aus A folgt B — falls ignoriert, folgt C…

Russland löst die sich früher selbst angelegten Fesseln und der Westen höchstselbst liefert die Legitimation.

In den vergangenen Jahren haben westliche Medien und Politiker Russland regelmäßig vorgeworfen, Militärtechnik aus Nordkorea, der Demokratischen Volksrepublik Korea, zu beziehen. Obwohl doch die UN-Sanktionen gegen den fernöstlichen Staat solche Transfers verbieten würden. Das sind UN-Sanktionen, denen sich Russland bislang auch in seinen Beziehungen zu Nordkorea unterworfen hatte. Nun aber erscheint es Moskau sinnvoller, die Einhaltung der vom Westen definierten Regeln der sogenannten regelbasierten Ordnung aufzugeben.

Von Peter Frey

26.6.2024

https://peds-ansichten.de/2024/06/ukraine-konflikt-eskalation-nato-russland-korea-multipolare-welt/

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Solowjow: «Entweder siegt Russland, oder die ganze Welt wird zerstört»

Wladimir Solowjow ist der Superstar des russischen Polit-Fernsehens. Millionen von Russen schauen seine Talkshows.

Roger Köppel im Gespräch mit Wladimir Solowjow, 19.6.2024, weltwoche.ch

(veröffentlicht bei seniora.org am 25.6.2024)

Redaktion von seniora.org: .Dies ist ein sehr gut gelungenes wichtiges Interview, das wir gerne übernehmen. Die Persönlichkeit Solovyov ist sehr gut getroffen. Kleiner Hinweis: Die Weltwoche nennt Solovyov einen Kreml-Propagandisten. Das ist so nicht richtig: Solovyov kritisiert Putin ständig wegen seiner „weichen“ Haltung. In seiner letzten Sendung wurde gefordert, Charkow, Odessa und Kiew „dem Erdboden gleich zu machen“.

https://seniora.org/wunsch-nach-frieden/demokratie/solowjow-entweder-siegt-russland-oder-die-ganze-welt-wird-zerstoert

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Putins „Krieg“ zur Neugestaltung des amerikanischen Zeitgeist (sic!)

Nur wenn wir die russischen Nuklearwarnungen verstehen und ernst nehmen, können wir das Risiko ausschließen, dass Atomwaffen ins Spiel kommen.

Von Alastair Crooke

24.6.2024

Übersetzung von Andreas Mylaeus

https://afsaneyebahar.com/2024/06/24/20700519/

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US-„Ukraine-Hilfe“: Selbsthilfe für die USA

„80 bis 90 Prozent der gerade für die Ukraine genehmigten Mittel werden die US-Grenzen nie verlassen“ – so bilanziert der polnische Autor Jakub Dymek (Przeglad 22. April 2024). Aber auch das ist nur die Hälfte der Wahrheit. Dymek untersucht das im April 2024 vom US-Kongress beschlossene Hilfspaket von 60 Milliarden Dollar für die Ukraine als typisch für die US-Ukraine-Hilfen: „Es sind gar nicht 60 Milliarden, es handelt sich gar nicht um Hilfe, und meistens geht es gar nicht um die Ukraine. Tatsächlich wird weniger als ein Fünftel dieser Mittel jemals die Ukraine erreichen.“

Von Werner Rügemer

20.6.2024

https://afsaneyebahar.com/2024/06/26/20700549/

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Butscha und der Verrat am Frieden

Wie mit Hilfe eines Verbrechens an Zivilisten ein möglicher Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine zu Grabe getragen wurde.

Von Peter Frey

17.6.2024

https://peds-ansichten.de/2024/06/butscha-ukraine-russland-friedensverhandlungen-umjerow-gerhard-schroeder-naftali-bennett/

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